Immanuel Kant

Preußischer Weltbürger 

Auch 200 Jah­re nach sei­nem Tod ist Imma­nu­el Kant up to date: als geis­ti­ger Hori­zont­ab­ste­cker, Nihi­lis­mus-Schild und Ver­eh­rer der Kochkunst

Gegen elf Uhr vor­mit­tags war es vor­bei. „So ruhig als mög­lich” und „wie es schien, gern”, notier­te ein Zeu­ge, ver­schied der 79-jäh­ri­ge Imma­nu­el Kant in sei­nem Haus zu Königs­berg. Man schrieb den 12. Febru­ar 1804.

Solch gnä­di­gem Exitus war ein Ver­fall vor­an­ge­gan­gen, der sich über Jah­re hin­zog. Am Ende war aus einem der größ­ten Geis­ter, den die Welt je gese­hen hat, nicht nur kör­per­lich, son­dern auch intel­lek­tu­ell wie­der ein klei­nes Kind gewor­den. Wie ein sol­ches habe man ihn zu behan­deln, hat­te er Freun­den beschie­den, die ihn besuch­ten, und sei­ne buch­stäb­li­che Hin­fäl­lig­keit iro­ni­sier­te er mit den Wor­ten: „Wer so leicht ist wie ich, kann nicht schwer fallen.”

Sogar post mor­tem erwies sich der Phi­lo­soph als ein äußerst spe­zi­el­les Wesen: Sein Leich­nam war der­art aus­ge­trock­net, dass man ihn auf- und zur Schau stel­len konn­te. 16 Tage lang bestaun­ten Königs­ber­ger und Zuge­reis­te den Men­schen, der nicht nur die tran­szen­den­ta­le Deduk­ti­on zu Wege gebracht hat­te (die bis heu­te kaum ein Phi­lo­so­phie­pro­fes­sor ver­steht), son­dern auch das nicht min­der ein­zig­ar­ti­ge Kunst­stück fina­ler Selbst­mu­mi­fi­zie­rung. Als er schließ­lich begra­ben wur­de, läu­te­ten alle Glo­cken der 50 000-Einwohner-Stadt.

Das Todes­da­tum des preu­ßi­schen Welt­wei­sen jährt sich am Don­ners­tag die­ser Woche zum 200. Mal, und dar­um ist 2004 Kant-Jahr. Je län­ger die Mensch­heits­ge­schich­te währt, des­to zahl­rei­cher fal­len sol­che Jubi­lä­en, und des­to the­sen­kon­zen­trier­ter müs­sen sie abge­fei­ert wer­den. Im Fall Kant dürf­te das all­ge­mei­ne­re Inter­es­se dies­mal einem Aspekt gel­ten, der sich auf die para­do­xe For­mel brin­gen lässt: Der Mann hat­te eine Bio­gra­fie. Lan­ge Zeit galt näm­lich genau das Gegen­teil als aus­ge­macht. Der Königs­ber­ger Erz­ge­schei­te sei von der Nach­welt „in eine ‚fla­che Per­sön­lich­keit’ ver­wan­delt” wor­den, „deren ein­zig über­ra­schen­der Zug war, daß es ihr an allem Über­ra­schen­den man­gel­te”, rügt Man­fred Kühn, Mar­bur­ger Phi­lo­so­phie­pro­fes­sor und Ver­fas­ser der mit Abstand bes­ten Bio­gra­fie zum Gedenkjahr.

Kant hat­te drei zeit­ge­nös­si­sche Ecker­män­ner, sie hie­ßen Lud­wig Borow­ski, Rein­hold Jach­mann und Ehregott Wasi­an­ski. Da sie alle deut­lich jün­ger waren als der Phi­lo­soph, berich­te­ten sie vor­wie­gend über des­sen spä­te Jah­re. So tru­gen sie jenen Anek­do­ten­fun­dus zusam­men, der den Den­ker als schrä­ges Prin­zi­pi­en­mons­ter und welt­frem­den Kauz über­lie­fer­te – und die­ses Bild hält sich bis in die Gegen­wart. „Er hat­te weder Leben noch Geschich­te”, fass­te Hein­rich Hei­ne die Kli­schees zusam­men. Fried­rich Nietz­sche, der Kants Moral­phi­lo­so­phie hass­te, schmäh­te deren Urhe­ber spä­ter als „Spin­ne”, „Begriffs­krüp­pel” und „Chinese(n) von Königsberg”.

In der Tat war Kant nur 1,57 Meter groß, leicht ver­wach­sen und hat­te, nach allem, was man weiß, in sei­nem Leben mit exakt einer Frau weni­ger Geschlechts­ver­kehr als Nietz­sche (näm­lich mit gar kei­ner). Aber auch die­ses geis­ti­ge „Welt­wun­der” (so der Kul­tur­his­to­ri­ker Egon Frie­dell) ist der­mal­einst ein jun­ger Mann gewe­sen und davor ein Kind, wel­ches von sei­ner Frau Mama „Manel­chen” genannt wur­de. Zeit­ge­nos­sen schil­dern den Magis­ter Kant – er wur­de erst mit 45 Jah­ren Pro­fes­sor – als ele­gan­te Erschei­nung von attrak­ti­vem Äuße­ren, als galan­ten und vor allem bril­lan­ten Plau­de­rer, des­sen tro­cke­ner Humor und geseg­ne­ter Appe­tit an vie­len Tafeln, bür­ger­li­chen wie adli­gen, hoch geschätzt wur­den. Vie­le Jah­re, bevor er sich der „Meta­phy­sik der Sit­ten” zuwand­te, ergrün­de­te er die­sel­ben sozu­sa­gen als Salon­lö­we, der bei den obe­ren Fünf­hun­dert der pro­spe­rie­ren­den Han­dels­stadt ver­kehr­te. Hin und wie­der genoss er dabei des Wei­nes so viel, dass er sei­ne Woh­nung, „das Loch in der Magis­ter­gas­se”, nicht mehr fand.

Die Lei­den­schaft für gutes Essen und Wein soll­te ein Leit­mo­tiv in Kants Lebens blei­ben. Er wer­de sei­nen drei berühm­ten Ver­nunft­kri­ti­ken irgend­wann wohl noch eine Kri­tik der Koch­kunst fol­gen las­sen, wit­zel­te sein Freund Theo­dor Hip­pel, Bür­ger­meis­ter von Königs­berg. Sogar in den chao­ti­schen Text­ka­ta­rak­ten sei­nes Nach­las­ses tau­chen neben Erwä­gun­gen über die meta­phy­si­schen Anfangs­grün­de der Natur­wis­sen­schaft unver­mit­telt Koch­re­zep­te auf.

Sein Geld ver­dien­te Kant zeit­le­bens als Dozent, anfangs auch als Pri­vat­leh­rer (zu letz­te­rem Zweck ver­ließ er übri­gens, anders als die Mär es wis­sen will, sei­ne Hei­mat­stadt, frei­lich nur an die 100 Kilo­me­ter weit). Nie hat Kant eine Metro­po­le oder ein Gebir­ge gese­hen, obwohl er unter ande­rem Geo­gra­pie lehr­te, und zwar so anschau­lich, als sei er ein Welt­rei­sen­der – schließ­lich ver­moch­te sich der Mann noch ganz ande­re Din­ge vor­zu­stel­len. Zwei­mal erwog er, sich zu ver­ehe­li­chen, aber er erwog es so gründ­lich, dass die eine Kan­di­da­tin bereits unter der Hau­be und die ande­re inzwi­schen außer Lan­des war, als er sich end­lich durch­ge­run­gen hat­te. Was ihm ent­ging, defi­nier­te er spä­ter so: „Die Ehe ist der wech­sel­sei­ti­ge Gebrauch, den ein Mensch von eines ande­ren Geschlechts­or­ga­nen und Ver­mö­gen macht.”

Um sein 40. Lebens­jahr voll­zog sich eine fun­da­men­ta­le Ver­än­de­rung mit Kant – er selbst nann­te es „die Grün­dung eines Cha­rak­ters”. Es war, als gli­che er das noch zu schaf­fen­de Werk mit sei­ner Lebens­er­war­tung ab, sei­ne schwäch­li­che Kon­sti­tu­ti­on ein­ge­rech­net. Er zog sich von allen gesell­schaft­li­chen Zer­streu­un­gen zurück und unter­warf sich jenem peni­blen Zeit­re­gi­ment, wel­ches spä­ter in skur­ri­len Anek­do­ten wie­der­kehrt (etwa dass die Königs­ber­ger nach sei­nem Nach­mit­tags­spa­zier­gang ihre Uhren stell­ten). Nach die­ser Selbst­neu­schöp­fung ent­stan­den jene Schrif­ten, die sei­nen Ruhm begründeten.

Bei der Fra­ge, wer oder was die­se exis­ten­zi­el­le Keh­re ver­ur­sacht hat, stößt man auf einen Herrn namens Joseph Green. Kant mach­te die Bekannt­schaft des in Königs­berg ansäs­si­gen eng­li­schen Kauf­manns 1764 oder 1765, und Green wur­de der Gefähr­te sei­nes Lebens. Der wohl­ha­ben­de Bri­te, einem zeit­ge­nös­si­schen Urteil zufol­ge „mehr Gelehr­ter als Kauf­mann”, führ­te ein Ein­sied­ler­le­ben strikt nach der Uhr – ein­mal fuhr er an Kant, mit dem er zur Kutsch­par­tie ver­ab­re­det war, ein­fach vor­bei, weil der sich um ein paar Minu­ten ver­spä­tet hat­te. Es scheint, dass der Phi­lo­soph vie­le sei­ner Maxi­men von Green über­nahm, jeden­falls wur­de er ihm habi­tu­ell immer ähn­li­cher. Dem Freund zulie­be gab er Kar­ten­spiel und Thea­ter­be­su­che auf; statt­des­sen stell­te er sich nun jeden Nach­mit­tag bei Green ein, des­sen Haus er pünkt­lich um 19 Uhr ver­ließ. „Die Wir­kung, die Green auf Kant aus­üb­te, läßt sich gar nicht hoch genug ver­an­schla­gen”, resü­miert Kant-For­scher Kühn, und Zeit­zeu­ge Jach­mann berich­tet, der Phi­lo­soph habe ihm ver­si­chert, dass in der „Kri­tik der rei­nen Ver­nunft” kein Satz stün­de, den er nicht mit Green vor­her durch­ge­spro­chen habe. Wenn das stimmt, gehört der Eng­län­der ins Phi­lo­so­phen-Lexi­kon. Als der Freund 1786 starb, stell­te Kant sämt­li­che aus­wär­ti­gen Besu­che ein.

Acht Jah­re frü­her notier­te ein Astro­nom, der mit dem Phi­lo­so­phen an der Tafel des Gra­fen von Key­ser­lingk zu Mit­tag gespeist hat­te: „Von Herrn Kants phi­lo­so­phi­schen Schrif­ten war nun schon lan­ge nichts im Druck erschie­nen, er ver­sprach aber, nächs­tens wie­der ein Bänd­chen her­aus­zu­ge­ben.” Besag­tes Bänd­chen erschien 1781 – Kant war damals 57 Jah­re alt – und erschüt­ter­te die abend­län­di­sche Geis­tes­welt wie ein Naturereignis.

Die „Kri­tik der rei­nen Ver­nunft” beginnt mit einer eben­so nüch­ter­nen wie fol­gen­schwe­ren Dia­gno­se: „Die mensch­li­che Ver­nunft hat das beson­de­re Schick­sal in einer Gat­tung ihrer Erkennt­nis­se: daß sie durch Fra­gen beläs­tigt wird, die sie nicht abwei­sen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Ver­nunft selbst auf­ge­ge­ben, die sie aber auch nicht beant­wor­ten kann, denn sie über­stei­gen alles Ver­mö­gen der mensch­li­chen Ver­nunft.” Spä­ter wer­den jene Fra­gen benannt, die den den­ken­den Men­schen in Atem hal­ten: Was kann ich wis­sen? Was soll ich tun? Was darf ich hof­fen? Die 700 Sei­ten dazwi­schen bedeu­ten für die Phi­lo­so­phie einen ähn­li­chen Per­spek­ti­ven­wech­sel wie die koper­ni­ka­ni­schen Expe­ri­men­te für die Phy­sik. „Tran­szen­den­tal” nennt Kant sein Pro­jekt, wel­ches die Bedin­gun­gen der Mög­lich­keit von Erkennt­nis über­haupt zu erkun­den sucht.

2000 Jah­re Phi­lo­so­phie waren ein „Kampf­platz” wider­strei­ten­der Dog­men, aber bewei­sen ließ sich bis dato bekannt­lich kein ein­zi­ges. Nun wird der Ver­nunft selbst der Pro­zess gemacht. Zu wel­chen Urtei­len ist sie über­haupt fähig, und wel­che über­stei­gen ihre Gren­zen? Wo bewegt sie sich auf siche­rem Ter­rain, und wo hebt sie ab ins Nebu­lö­se? Der Clou dabei: Ange­klag­ter und Rich­ter sind iden­tisch. Kant erhebt die Selbst­kri­tik zur obers­ten phi­lo­so­phi­schen Tugend. Der „größ­te und viel­leicht ein­zi­ge Nut­zen aller Phi­lo­so­phie der rei­nen Ver­nunft” besteht in der „Grenz­be­stim­mung”: Anstatt irgend­wel­che Wahr­hei­ten zu ent­de­cken, eig­net ihr „nur das stil­le Ver­dienst, Irr­tü­mer zu verhüten”.

Jede Erkennt­nis, so Kants Befund, ent­springt einer Ver­bin­dung von Sinn­lich­keit und Intel­lekt. „Gedan­ken ohne Inhalt sind leer, Anschau­un­gen ohne Begrif­fe blind.” Die mög­li­chen Gegen­stän­de unse­rer Erkennt­nis sind eine Syn­the­sis aus die­sen bei­den Quel­len. Ein „Ding an sich”, bar jeder Kon­kre­ti­on, ist für den Sterb­li­chen zwar denk­bar – denk­bar ist über­haupt alles Mög­li­che -, doch nie und nim­mer erkenn­bar. Glei­ches gilt für Göt­ter und Welt­geis­ter aller Art.

Hart­nä­ckig hält sich noch immer das Gerücht vom „Deut­schen Idea­lis­mus”, den Kant begrün­det und Hegel voll­endet haben soll. In Wahr­heit trennt die bei­den mehr, als sie ver­bin­det. Gemes­sen an Kant ist Hegel der Phi­lo­soph des unein­lös­ba­ren Ver­spre­chens, wel­cher der Geschich­te mit gro­ßem Ges­tus ein Hap­py End ver­heißt und auf die­se Wei­se poli­ti­schen Ideo­lo­gien eine Steil­vor­la­ge lie­fert. Wie rea­lis­tisch wirkt dage­gen der Königs­ber­ger Auf­klä­rer, der nach eige­nen Wor­ten nicht Phi­lo­so­phie, son­dern phi­lo­so­phie­ren leh­ren woll­te und für den jeg­li­cher Drang zum Sys­tem nur ein Man­gel an Recht­schaf­fen­heit sein kann. „Aus so krum­mem Hol­ze, als wor­aus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gera­des gezim­mert wer­den” – allen ideo­lo­gisch moti­vier­ten Groß­ver­su­chen zur Beglü­ckung der Mensch­heit erteilt Kant eine Absage.

Auf den ers­ten Blick ein Pro­vinz­spie­ßer, der aus selbst ver­füg­ter Lebens­kraft­do­sie­rung lukra­ti­ve Beru­fun­gen nach Jena, Hal­le und Erlan­gen aus­ge­schla­gen hat, ist Kant in Wirk­lich­keit der Welt­mann unter den deut­schen Den­kern. Das Publi­kum, an wel­ches er sich wand­te, war immer die Mensch­heit schlecht­hin – im Grun­de sogar mehr als die­se, inso­fern er die Gül­tig­keit sitt­li­cher Maxi­men für alle ver­nunft­be­gab­ten Wesen pos­tu­liert und damit wohl auch Außer­ir­di­sche ein­be­zieht. Sei­ne Rezep­ti­on kennt kei­ne Gren­zen, kei­ne Moden, kei­ne Unter­bre­chung, sei­ne kri­ti­sche Metho­de lässt sich in ver­schie­de­ne Rich­tun­gen wei­ter­ent­wi­ckeln. Kant war nie­mals „out”. „Er ist nicht nur der gro­ße Kopf, son­dern der wahr­haf­ti­ge Mensch”, rühm­te sein Kol­le­ge Karl Jaspers.

Oben­drein ist sein Werk in ande­re Spra­chen über­setz­bar, ohne dass des­sen Eigen­tüm­lich­keit ver­lo­ren gin­ge. Die Tran­szen­den­tal­phi­lo­so­phie arbei­tet mit klar defi­nier­ten Begrif­fen und Kate­go­rien. Es gibt her­vor­ra­gen­de Lexi­ka und Kom­men­ta­re zu den drei Kri­ti­ken, guten Teils von eng­lisch­spra­chi­gen Autoren. Wer will, kann Kant ver­ste­hen. Wer will, kann sich in der kla­ren Luft kan­ti­schen Den­kens von nietz­schea­ni­schen Nar­ko­se­düns­ten, struk­tu­ra­lis­ti­schem Nebel oder dem höl­zern bes­ser­wis­se­ri­schen Genä­sel der Kri­ti­schen Theo­rie erholen.

Und wie viel preu­ßi­scher Exer­zier­platz steckt in Kants Ethik? „Riecht” der kate­go­ri­sche Impe­ra­tiv tat­säch­lich „nach Grau­sam­keit”, wie der Immo­ra­list Nietz­sche unter­stell­te? Wah­re Glück­se­lig­keit – so die „Kri­tik der prak­ti­schen Ver­nunft” (1788) – setzt vor­aus, dass sich eine Per­son ihrer auch als wür­dig erweist und den eige­nen Wil­len an sitt­li­chen Maxi­men aus­rich­tet. Sol­che „frei­en prak­ti­schen Geset­ze” kol­li­die­ren bekannt­lich mit unse­rer „Nei­gung zum Wohl­le­ben”, die zu ver­drän­gen jedoch absurd wäre. Kant plä­diert für eine Balan­ce zwi­schen Genuss und Pflicht. Letz­te­re dik­tiert kei­ne höhe­re Instanz, weder ein Herr­gott noch Poten­tat, die Sitt­lich­keit grün­det allein in der Selbst­ge­setz­ge­bung des Wil­lens. Der aus der rei­nen Ver­nunft ver­trie­be­ne Gott ist zwar nicht zu bewei­sen, aber durch­aus glaub­bar und besitzt als regu­la­ti­ve Idee und Daseins­stüt­ze prak­ti­schen Wert – wei­ter sind moder­ne from­me Ket­zer wie der exkom­mu­ni­zier­te Pader­bor­ner Theo­lo­ge Eugen Dre­wer­mann auch nicht gekommen…

Zum Prüf­stein für die indi­vi­du­el­len Regeln wird laut Kant ihre mög­li­che Ver­all­ge­mei­ne­rung – in sei­ner klas­si­schen For­mu­lie­rung: „Hand­le so, daß die Maxi­men dei­nes Wil­lens zugleich als Prin­zip einer all­ge­mei­nen Gesetz­ge­bung gel­ten kön­nen.” Aber wünscht sich jemand Karg­heit in der Lebens­füh­rung als all­ge­mei­nes Gesetz? Kant jeden­falls nicht: „Der Purism des Zyni­kers und die Flei­sches­tö­tung des Ana­cho­re­ten ohne gesell­schaft­li­ches Wohl­le­ben sind ver­zerr­te Gestal­ten der Tugend und für die­se nicht ein­la­dend; von den Gra­zi­en ver­las­sen, kön­nen sie auf Huma­ni­tät nicht Anspruch machen.”

„Welt­bür­ger­lich” sei die Absicht sei­nes Phi­lo­so­phie­rens, betont Kant. Die Leh­re habe sich im Leben zu bewäh­ren, sonst sei sie schnell im Ver­dacht der Spin­ne­rei. Also sorgt sich der Den­ker, wie die End­li­chen ein dau­er­haf­tes Gemein­we­sen orga­ni­sie­ren sol­len. Nur das Recht kön­ne die Matrix sein, inner­halb derer sich alle Indi­vi­du­en (wel­chen Glau­bens auch immer) frei ent­fal­ten und so ihre Chan­ce aufs Glück wah­ren können.

Fast ein Vier­tel­jahr­hun­dert lang hält Kant zudem ein öffent­li­ches Kol­leg, das zum gesell­schaft­li­chen Ereig­nis in Königs­berg wird. Das The­ma: prag­ma­ti­sche Anthro­po­lo­gie, also Din­ge des Lebens wie Tem­pe­ra­men­te, Nei­gun­gen, Wid­rig­kei­ten des All­tags. Für das „ver­ächt­lichs­te Las­ter” hält der Pflicht­ethi­ker die Faul­heit: „Der größ­te Sin­nen­genuß, der gar kei­ne Bei­mi­schung von Ekel bei sich führt, ist im gesun­den Zustan­de Ruhe nach der Arbeit. – Der Hang zur Ruhe ohne vor­her­ge­hen­de Arbeit in jenem Zustand ist Faulheit.”

Man kann augen­schein­lich weit kom­men mit den rich­ti­gen Maximen.

Erschie­nen in: Focus 7/2004, S. 56ff./ Co-Autor: Dr. Mar­tin Sche­rer, Phi­lo­soph, Vino­soph und auch sonst schwer bei Trost